English VERSION
From dreams to rooms
From department stores‘ to real house
Dr. Helmut Müller
Patron of the MADE.festival
FREE SPACES? WHICH FREE SPACES?
A conversation with friends who were looking for a flat or a quick look at a property portal and the astronomical prices suggest that there are no more rooms at all – and certainly no more free spaces. The travellers had it even easier: they packed a few things and headed off to Monte Verita, into a new world. It no longer exists. Where there was freedom, there are now pretty villas, made even more beautiful by their history, all well fenced in. Sure, you can still find something somewhere, but not here, where one neighbourhood borders on the next. Even the smallest escape is no longer possible without a passport and tax ID – no doubt well-intentioned on the part of people who believe that the enactment of a regulation is the solution to the problem.
Pretty tight. And all this before the still very recent experiences of the pandemic, the shocks caused by the brutal war of aggression in Ukraine or the challenges of the climate crisis. Such tectonic shifts require new answers; those who fail to make the leap out of the old algorithms may read the old maps perfectly, but will not find the way out.
TIME TO PLAY.
Everyone is talking about the importance of creativity. Funds are made available or centres are set up, with statutes, supervisory bodies, objectives – but despite all the perfection, they follow the old algorithms.
The only way to create something truly new is to get rid of the ballast. Independently, free from predetermined goals, with joy and fun and knowing that you are not in the old structures (Huizinga). „Man is only fully human where he plays“ (Schiller). Searching without pursuing specific purposes, independent and free. A mathematician’s joke has more than a spark of truth in it – I have a solution and am now looking for a problem. The arts can do that. Lenbach and Kandinsky lived in the same city at the same time. Their work more than clearly shows that there must be more than one approach to the world – and that new approaches can be found.
EXPECT THE UNEXPECTED.
Logic only rules in textbooks and bad films. Real life doesn’t care about our findings, but is good and bad at the same time, surprising, unpredictable and full of paradoxes. The conversation about the lack of living space is loosely followed by complaints about vacancies in city centres. Images of the conditions in Detroit or Glasgow in the 1960s slowly rise up in the back of the mind. Too much and too little at the same time, in the same place.
We probably have Amazon to thank for the rediscovery that public and communicative spaces are not only created by markets, consumption and production: online retail has swept through city centres like a whirlwind during the pandemic. In contrast, the classic triad of town hall, church and pub in the centre of our cities is not only being rediscovered, but also expanded to include the experience of the importance of art and culture for a functioning community. „Systemically relevant“ – why not learn from the „Masters of the Universe“ (Tom Wolfe’s mocking term for up-and-coming young bankers)?
And a quick glance at the news of the day shows that this is not about the odd nice pop-up store, but about what was recently considered the heart of city centres: tens of thousands of m² in department stores, malls or bank branches that no longer work. Almost endless examples of the transformation of industrial buildings into new, successful hotspots can now be cited. They are the new factory halls. Open spaces are being created exactly where they seemed impossible yesterday: right in the centre. Just the right place to bring people together to think, play, work and generate new ideas and thoughts. In view of the looming alternatives, political decision-makers no longer need so much courage to make space, time and resources available for this. The space is free, so let’s use it – new homes for the beautiful, the good and the true!
Vom Warenhaus zum wahren Haus
Dr. Helmut Müller
Schirmherr des MADE.Festivals
FREIRÄUME? WELCHE FREIRÄUME?
Ein Gespräch mit Freunden, die auf Wohnungssuche waren oder ein kurzer Blick in ein Immobilienportal und auf die astronomischen Preise legen den Verdacht nahe, dass es überhaupt keine Räume – und schon gar keine Freiräume – mehr gibt. Die Wandervögel hatten es noch einfacher, ein paar Sachen gepackt und ab auf den Monte Verita, in eine neue Welt. Gibt es nicht mehr. Wo die Freiheit war, stehen jetzt hübsche Villen, die durch ihre Geschichte noch schöner werden, alle gut eingezäunt. Klar, irgendwo findet man schon noch was, aber nicht bei uns, wo das eine Umland schon ans nächste grenzt. Noch die kleinste Flucht geht nicht mehr ohne Pass und ohne Steuer-ID – sicher gut gemeint von Menschen, die den Erlass einer Regelung schon für die Lösung des Problems halten.
Ziemlich eng. Und das alles vor den noch sehr frischen Erfahrungen der Pandemie, den Erschütterungen, die der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöst haben oder den Herausforderungen der Klimakrise. Solche tektonische Verschiebungen brauche neue Antworten, wer den Sprung aus den alten Algorithmen nicht schafft, liest vielleicht perfekt die alten Karten, aber findet den Ausgang nicht.
ZEIT ZUM SPIELEN.
Alle reden über die Bedeutung der Kreativität. Mittel werden bereitgestellt oder Zentren werden eingerichtet, mit Satzungen, Aufsichtsgremien, Zielsetzungen – aber folgen bei aller Perfektionierung den alten Algorithmen.
Wahrscheinlich kann wirklich Neues nur entstehen, wenn man Ballast abwirft. Unabhängig, frei von vorgegebenen Zielen, auch mit Freude und Spaß und wissend, dass man sich eben nicht in den alten Strukturen befindet (Huizinga). »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« (Schiller). Suchen, ohne bestimmte Zwecke zu verfolgen, unabhängig und frei. Ein Mathematikerscherz hat mehr als einen Funken Wahrheit in sich – ich habe eine Lösung und suche jetzt nach einem Problem. Die Künste können das. Lenbach und Kandinsky lebten zur selben Zeit in derselben Stadt. Ihr Werk zeigt mehr als augenfällig, dass es mehr als einen Zugang zur Welt geben muss – und neue Zugänge gefunden werden können.
EXPECT THE UNEXPECTED.
Nur in Lehrbüchern und schlechten Filmen regiert die Logik. Das echte Leben schert sich nicht um unsere Erkenntnisse, sondern ist gut und schlecht gleichzeitig, überraschend, unvorhersehbar und voller Paradoxien. An das Gespräch über fehlenden Wohnraum schließt sich in lockerer Folge die Klage über Leerstände in den Zentren an. So langsam steigen im Hinterkopf die Bilder der Zustände aus Detroit oder dem Glasgow der 60er Jahre auf. Zuviel und zu wenig zur gleichen Zeit, am selben Platz.
Die Wiederentdeckung, dass öffentliche und kommunikative Räume nicht nur durch Märkte, Konsum und Produktion entstehen, haben wir vermutlich Amazon zu verdanken: Der Onlinehandel ist während der Pandemie wie ein Wirbelsturm durch die Innenstädte gefegt. Die klassische Trias von Rathaus, Kirche und Wirtshaus im Zentrum unserer Städte wird demgegenüber nicht nur wiederentdeckt, sondern um die Erfahrung der Bedeutung von Kunst und Kultur für ein funktionierendes Gemeinwesen erweitert. »Systemrelevant« eben – warum nicht mal von den »Masters of the Universe« (Tom Wolfes Spottbezeichnung für aufstrebende Jung-Bänker) lernen?
Und der schnelle Blick in die News der Tage zeigt, dass es dabei nicht um den einen oder anderen netten Pop-up Store geht, sondern um das, was man vor kurzem noch für das Herz der Innenstädte gehalten hat: um zigtausende m², in Kaufhäusern, Malls oder Bankfilialen, die nicht mehr funktionieren. Schier unendliche Beispiele der Transformation von Industriegebäuden in neue, erfolgreiche Hotspots lassen sich inzwischen anführen. Sie sind die neuen Fabrikhallen. Freiräume entstehen genau dort, wo sie gestern noch unmöglich schienen: mittendrin. Genau der richtige Platz, um Menschen zusammen zu bringen, nachzudenken, zu spielen, zu arbeiten und dabei neue Ideen und Gedanken entstehen zu lassen. Angesichts der drohenden Alternativen braucht es bei politischen Entscheidungsträgern gar nicht mehr so viel Mut, Räume, Zeit und Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen. Der Raum ist frei, also nutzen wir ihn – Neue Häuser für das Schöne, Gute und Wahre!